Sachsen lieh Polizisten für Millionen-Summe – Auswertung zum „Tag X“ in Leipzig zeigt: Mehrheit der Demonstranten reiste als Protest-Touristen an
Nach dem Urteil im Fall Lina E. eskalierte in Leipzig eine Demonstration. Das ist jetzt Monate her, aber noch immer wird über den Tag gestritten. Eine Untersuchung des Innenministeriums zeigt jetzt, woher die Demonstranten kamen und wie viel Sachsen für auswärtige Polizisten zahlte.
Der Polizeieinsatz zu der nach dem Urteil im Fall Lina E. eskalierten Demonstration in Leipzig ist bis heute umstritten. 200 Fragen hatte die Linksfraktion im sächsischen Landtag dem Innenministerium dazu gestellt. „Aus den Antworten ergeben sich aber neue Fragen“, sagte Kerstin Köditz, Abgeordnete der Linken im Landtag. Sie stellt etwa weiter die Verhältnismäßigkeit des über Stunden aufrecht erhaltenen Polizeikessels in Frage.
Kurzer Rückblick: Im Frühsommer 2023 wurde die linksextreme Bande um Lina E. wegen Attacken auf Neonazis zu Haftstrafen verurteilt. Aus Sorge vor Ausschreitungen untersagte die Stadt Leipzig fast alle Proteste gegen das Urteil. Zu einer zugelassenen Demonstration kamen 1500 Menschen. Die Lage eskalierte, Steine, Pyrotechnik und auch ein Brandsatz flogen auf Polizisten. Die Beamtinnen kesselten einen Großteil der Demonstranten im Süden der Stadt ein.
Die Antwort auf die Linken-Anfrage zeigt jetzt: Die Mehrheit der auf der Demo Festgesetzten kam nicht aus Leipzig (495), sondern aus anderen Bundesländern (700). Auch aus anderen Orten Sachsens (94) und dem Ausland (30) reisten Personen an. Ein Aufruf zu den Protesten hatte zuvor mit Sachschäden in Millionenhöhe gedroht. Die zugelassene Demonstration bezog sich dann zwar nicht auf Lina E., sondern auf die Versammlungsfreiheit. Sie wurde aber dennoch von vielen als Ersatz wahrgenommen.
Nach Ausschreitungen an „Tag X“ in Leipzig: 190 000 Euro Sachschaden
Rund um die Proteste leitete die Polizei fast 1500 Ermittlungsverfahren ein, das zeigt die Antwort auf die Linken-Anfrage. Acht davon wurden demnach inzwischen eingestellt. Bei rund 35 der festgestellten Straftaten entstand den Angaben zufolge ein Gesamtschaden in Höhe von mehr als 190 000 Euro, etwa weil Autos oder Container angezündet worden waren.
Viele Fragen der Linksfraktion an die Landesregierung beschäftigen sich mit dem umstrittenen Polizeikessel. Für den Leipziger Polizeipräsidenten René Demmler war die Umschließung nach der Eskalation der Demo nötig – zur Abwehr weiterer Gefahren und zur Strafverfolgung. Die Antwort der Landesregierung zeigt nun noch noch einmal, dass Polizei und Versammlungsbehörde die Mehrheit der Demonstranten vor Ort schon frühzeitig für friedlich hielten. 1000 der 1500 Menschen schätzten sie demnach so ein, 300 als gewaltgeneigt und 200 als gewaltsuchend. Eingekesselt wurden nach der Eskalation aber 1324 Protestierende – eine Zahl, die am Tag selbst und bis heute immer wieder nach oben korrigiert wurde.
Sachsen lieh Polizisten für fast zwei Millionen Euro
Noch vor Ort wurde allen Eingeschlossenen schwerer Landfriedensbruch vorgeworfen, bis heute wird dazu ermittelt. Die Staatsanwaltschaft Leipzig bearbeitet nach eigener Auskunft aktuell 385 der „Tag X“-Verfahren, 330 davon gegen Menschen aus dem Kessel. Der Verdacht, weitere Straftaten begangen zu haben, bestand laut dem Innenministerium zum Zeitpunkt des Kessels aber nur gegen neun der 1324 Personen. Dabei ging es etwa um Verstöße gegen das Sprengstoffgesetz.
Dem Innenministerium zufolge waren seit der Nacht zum sogenannten „Tag X“ bis zum Folgetag gut 4600 Polizistinnen und Polizisten im Einsatz, darunter 1500 aus Sachsen. Für den Einsatz der Kräfte aus anderen Bundesländern und der Bundespolizei wurden dem Freistaat bislang fast zwei Millionen Euro in Rechnung gestellt, wie ein Sprecher des Ministeriums sagte und damit die vorläufige Zahl aus den Antworten auf die Linken-Anfrage noch einmal nach oben korrigierte.
Linke: „Widersprüche in den Antworten des Innenministeriums“
Kerstin Köditz von der Linksfraktion sieht in den Antworten des Innenministeriums nach einem ersten Blick in das 80 Seiten lange Dokument Widersprüche – etwa bei den Informationen, die zu den Demonstrationsverboten geführt hatten. Sie kritisiert auch die Vorgänge rund um den Polizeikessel. „Es wird auch behauptet, dass die Menschen sich noch hätten entfernen können, während die Polizei die Umschließung gebildet hat“, sagt Köditz. „Das steht im Widerspruch zu allen Augenzeugenberichten.“
Polizeipräsident Demmler verwies auf Nachfrage darauf, dass das Vorgehen der Polizei den rechtlichen Anforderungen entsprochen habe. „Bisherige juristische Entscheidungen sehen dies nicht anders“, sagte er. Einige Fehler hatte die Polizei aber bald eingeräumt und thematisiert sie auch jetzt wieder, etwa bei der Einschätzung zur Zahl der Eingekesselten. Mit der Aufarbeitung des Einsatzes waren in der Polizeidirektion Leipzig dem Innenministerium zufolge vier Beamte befasst.
Antonie Rietzschel 29.02.2024
1324 Menschen im Polizeikessel – Das „Tag X“-Protokoll von Leipzig – die wichtigsten Fragen und Antworten
Das Innenministerium beantwortet 200 Fragen zum „Tag X“ – und kann doch nicht jeden Zweifel am Vorgehen der Polizei in Leipzig ausräumen. Wie kam es zum Kessel? Und warum verschätzte sich die Einsatzleitung? Ein Überblick über die wichtigsten Fragen.
Demonstrationen sind in einer Protest-Hochburg wie Leipzig Alltag. Es kommt vor, dass Polizisten bei Straftaten Grüppchen umstellen, Personalien aufnehmen, Ermittlungen einleiten. Was sich allerdings am 3. Juni 2023 rund um den „Tag X“ im Leipziger Süden abspielte, hat deutschlandweit für Schlagzeilen gesorgt: Nach der Auflösung einer Demonstration umschlossen Beamte den Heinrich-Schütz-Platz und damit 1324 Menschen. Sie harrten bis tief in die Nacht aus.
Hunderte Ermittlungsverfahren wurden eingeleitet, Handys beschlagnahmt. Dieser Kessel habe zunächst der Gefahrenabwehr, später der Verfolgung von Straftaten gedient, sagt Leipzigs Polizeipräsident René Demmler der LVZ. Die „rechtlichen Anforderungen“ seien erfüllt gewesen. Und trotzdem bleiben nach Gesprächen mit Betroffenen und den jetzt veröffentlichen Ausführungen des Innenministeriums Zweifel an der Verhältnismäßigkeit.
Wie schätzte die Polizei die Lage ein?
Nach dem Urteil im Prozess gegen Lina E. hatten nicht nur linke, sondern auch gewaltbereite autonome Gruppen zu Protesten aufgerufen. Es drohte Gewalt und hoher Sachschaden. Eine entsprechende Demonstration wurde verboten – erlaubt war dagegen der Protest gegen die Einschränkung des Versammlungsrechts. 1500 Menschen kamen am Abend des 3. Juni in die Südvorstadt. Sie stammten nicht nur aus Sachsen, sondern auch aus anderen Bundesländern. 1000 Demonstranten stufte die Polizei schon vor Ort als friedlich ein, 300 als gewaltbereit, 200 als gewaltsuchend.
17.33 Uhr erfolgte eine Durchsage der Polizei: Anders als geplant, gebe es nur eine Kundgebung. Die Stimmung wurde in der nächsten halben Stunde in manchen Bereichen aggressiv. Auf der Scharnhorstraße versuchte eine Gruppe auszubrechen, auf vorrückende Polizisten flogen Pyrotechnik, Steine, ein Brandsatz. 18.08 Uhr löste Jürgen Kasek, Grünen-Stadtrat und Versammlungsleiter, die Demo auf. Die Polizei bat per Lautsprecher darum, sich von Straftätern zu distanzieren. 18.23 Uhr dann die Aufforderung, sich in Kleingruppen Richtung Connewitz zu entfernen. Es wurde mit polizeilichen Maßnahmen gedroht.
Warum sind die Menschen nicht einfach gegangen?
Die LVZ war selbst an dem Tag vor Ort, hat mit mehreren Menschen gesprochen. Die Lage war dynamisch. Die Polizei drängte immer wieder Gruppen von Angreifern zurück. „Ich habe nur eine rennende Menschenmasse gesehen und wollte ausweichen“, so beschreibt es der Schatzmeister des Kreisverbands der Grünen, Jonathan Wiencke, der LVZ. Er lief Richtung Heinrich-Schütz-Platz, war schnell umgeben von anderen Demonstranten und Polizisten. „Es gab keine Chance, rauszukommen. Wir standen Schulter an Schulter.“ Eine Darstellung, die sich mit Aussagen anderer Betroffener deckt und der das Innenministerium mit Formalien begegnet: „Nach den Einsatzvorgaben konnten sich Unbeteiligte und friedfertige, ehemalige Versammlungsteilnehmende während der Bildung der Umschließung entfernen“, heißt es in der Antwort auf die Große Anfrage der Linken im Sächsischen Landtag. Die Anzahl habe man jedoch nicht dokumentiert.
Ob die Vorgabe tatsächlich umgesetzt wurde? Polizeipräsident René Demmler verweist auf LVZ-Nachfrage auf Videoaufnahmen, die das belegen sollen. Spätestens 18.45 Uhr war der Heinrich-Schütz-Platz komplett umschlossen. Polizei und Staatsanwaltschaft entschieden: Gegen alle Personen liegt ein Anfangsverdacht wegen Landfriedensbruchs vor. Außerdem liefen Ermittlungen wegen anderer Delikte, wie Widerstandes gegen Beamte und Verstößen gegen das Sprengstoffgesetz.
Warum ging die Polizei von weit weniger Menschen aus?
Auf dem Heinrich-Schütz-Platz stehen Büsche und Bäume – schwer einsehbar, das geben auch jene zu, die dort ausharrten. Allerdings kreiste über dem Polizeikessel ein Hubschrauber, schickte Bilder in das Lagezentrum.
Außerdem waren Tatbeobachter unterwegs: Polizisten in Zivil, die Einschätzungen liefern sollten. Trotzdem war in ersten Meldungen von 300 bis 400 Eingeschlossenen die Rede. Die Zahl wurde erst am 4. Juni nach oben korrigiert.
Wie war die Lage auf dem Heinrich-Schütz-Platz?
Die Erzählungen Betroffener gleichen sich: Stundenlanges Warten, ein Busch, der als Klo diente, mangelnde Versorgung, Schwächeanfälle und Polizeibeamte, die immer wieder Leute zur Identitätsfeststellung abführten. Jonathan Wiencke verließ den Heinrich-Schütz-Platz gegen 2 Uhr nachts, andere erst gegen 5 Uhr.
Die Polizei hat in der Vergangenheit bereits Fehler eingeräumt. Polizeipräsident Demmler entschuldigte sich bei Demosanitätern. In der Bilanz des Innenministeriums wird auch noch mal ausdrücklich auf Probleme in der Kommunikation hingewiesen. Im Kessel befanden sich zwei unter 14-Jährige und 104 Jugendliche. Eltern, die auf der Suche nach ihren Kindern waren, wurde empfohlen, telefonisch Kontakt aufzunehmen, damit sie priorisiert behandelt werden könnten.
Welche Rolle spielen beschlagnahmte Handys?
An jenem Abend beschlagnahmte die Polizei 383 Handys – sie könnten als mögliche Beweismittel gelten, wenn sich darauf Fotos und Videos von Straftaten finden.
173 Mobilgeräte wurden bereits ausgelesen. In mehreren Fällen hatte die Polizei um die Herausgabe von Zugangsdaten gebeten, lediglich 75 Handybesitzer waren dazu bereit. Jonathan Wiencke hat sein Mobiltelefon wieder – benutzt es jedoch nicht.
Wie steht es um die juristische Aufarbeitung?
Rund um den „Tag X“ leitete die Polizei 1500 Ermittlungsverfahren ein. Die Staatsanwaltschaft bearbeitet derzeit 330 Fälle, die konkret mit dem Kessel zusammenhängen. Die Zahl kann aber noch steigen. Einen Ermittlungserfolg gab es nach dem Angriff mit einem Molotow-Cocktail. Anfang des Jahres hatte sich ein 25-Jähriger gestellt.
Auch gegen Polizisten liegen Anzeigen vor, die Staatsanwaltschaft ermittelt in 15 Fällen gegen Unbekannt. Es geht unter anderem um Beleidigung, Nötigung und Angriffe. Außerdem stellen Betroffene die Rechtmäßigkeit des Polizeikessels infrage. Offenbar wurden beim Amtsgericht mehrere entsprechende Anträge eingereicht.
Denise Peikert 29.02.2024
Proteste zum Fall Lina E. – Bilanz zum „Tag X“ in Leipzig: Wichtigste Frage bleibt ungeklärt
Auf Anfrage der Linken zieht Sachsens Innenministerium Bilanz zu einer eskalierten Demonstration nach dem Lina-E.-Urteil. Zumindest eine Sache wird für immer offenbleiben, meint unsere Kommentatorin.
Der Leipziger Kessel am sogenannten „Tag X“ ist weit über Sachsen hinaus bekannt. Am 3. Juni im vergangenen Jahr, dem lange angekündigten Protesttag gegen das Urteil im Fall Lina E., war eine Demo eskaliert – und rund 1300 Menschen waren über Stunden hinweg von der Polizei eingekesselt. Von einer „der größten Freiheitsentziehungen in der deutschen Geschichte“ schrieb eine linke Tageszeitung kürzlich erst. Vom „sächsischen Ansatz“ sprechen Versammlungsrechtler sarkastisch, wenn sie anzweifeln, ob die Polizei tun durfte, was sie tat.
Nun, nach neun Monaten emotionaler Kessel-Debatte, liegt eine behördliche Bilanz vor. 200 Fragen der Linksfraktion im sächsischen Landtag hat das Innenministerium beantwortet. 80 Seiten lang, es geht um jedes einzelne von fast 1500 eingeleiteten Ermittlungsverfahren, genauso wie um den letzten im Kessel gefunden Tabaksbeutel. Das Bemühen, die Dinge möglichst transparent zu machen, ist dem Ministerium und der Leipziger Polizei anzumerken, wie von Anfang an zum „Tag X“. Einerseits.
Ministerium schmallippig bei besonders emotionalen Themen
Andererseits bleibt das Innenministerium gerade dann schmallippig, wenn es um die Frage geht, die die Protestierenden besonders bewegt: Konnten die friedlichen Teilnehmerinnen, die auch nach Meinung der Polizei deutlich in der Überzahl waren, dem Kessel entgehen? War das wirklich möglich, trotz vorrückender Polizei und quer gestellter Mannschaftswagen? „Ein kontrolliertes Entfernen wurde durch die Einsatzkräfte zu jeder Zeit gewährleistet“, heißt es da aus dem Innenministerium nur, und was das genau heißt, bleibt offen.
Die allerwichtigste Frage wird sowieso ungeklärt bleiben, da kann vor den Gerichten noch so lange mit gutem Recht um beschlagnahmte Handys und festgestellte Identitäten gerungen werden. Was wäre passiert, hätte es den Kessel nicht gegeben? Hätten die Gewalttäter unter den Demonstrantinnen einen deutlich höheren Schaden angerichtet als die 190 000 Euro, die das Innenministerium nun zusammengerechnet hat? Aus Sicht der Polizei rechtfertigt das, was nicht passiert ist, das ruppige Vorgehen. Jemand aus dem Zehn-Stunden-Kessel, der keinen Stein geworfen und auch nicht vorhatte, Haltestellenhäuschen zu entglasen, wird das wohl anders sehen.